Samstag, 29. September 2012

OLG Koblenz: Insolvenz in England verstößt gegen deutschen ordre public


Deutsche Gerichte gehen zunehmend gegen die vermeintliche „Insolvenzflucht nach England" vor. Dabei nutzen Sie die beiden sich bietenden Ansatzpunkte. Zum einen reißen sie zu Beginn des Verfahrens sogar bei im Ausland wohnhaften Schuldnern die internationale Zuständigkeit an sich, zum anderen versagen sie nach Erlangung der Restschuldbefreiung dieser gem. Art. 26 EuInsVO die Anerkennung.

Mit Urteil vom 19.7.2012 - 1 U 1/11 - hat das OLG Koblenz das Urteil des LG Koblenz vom 2.12.2010 - 1 O 40/10 - bestätigt, in welchem einer in England erlangten Restschuldbefreiung des Schuldners die Anerkennung in Deutschland wegen Verstoßes gegen den ordre public versagt worden war. Das OLG Koblenz wies in der mündlichen Verhandlung darauf hin, dass es die Rechtsmeinung des Landgerichts teile. Daraufhin schlossen die Parteien einen Vergleich. Danach focht der Schuldner den Vergleich mit der Begründung an, er sei durch eine fehlerhafte rechtliche Aufklärung des Senats zum Vertragsschluss verleitet worden. Dabei begründete er eingehend, dass ein Verstoß gegen den ordre public nicht vorliege. In der folgenden Verhandlung blieb der Senat erneut bei seiner Auffassung, ohne sich mit den rechtlichen Argumenten auseinanderzusetzen. Durch Urteil vom 19.7.2012 - 1 U 1/11 - wies er die Anfechtung zurück und bestätigte, dass der Prozess durch Vergleich beendet sei. Damit stellte er de facto rechtskräftig fest, dass die Rechtsmeinung, die das LG Koblenz seinem Urteil vom 2.12.2010 - 1 O 40/10 - zu Grunde gelegt hatte, richtig gewesen sei, und dass der in England erlangten Restschuldbefreiung die Anerkennung wegen Verstoßes gegen den ordre public zu versagen sei. Der Senat ließ erkennen, dass für die Zurückweisung des ordre public-Einwandes „möglicherweise die besseren Gründe" sprechen, dass dieses Ergebnis aber nicht gewünscht war.
Beide Urteile sind jedoch weder in der Begründung noch im Ergebnis haltbar.
Es lag ein Sachverhalt zu Grunde, in dem ein Gläubiger gegen den Schuldner wegen einer Forderung vollstreckte, die von einer in England erlangten Restschuldbefreiung erfasst war. Hiergegen setzte sich der Schuldner mit der Vollstreckungsgegenklage zur Wehr. Das Landgericht wies die Klage mit der Begründung ab, die Restschuldbefreiung verstoße gegen den deutschen ordre public, da die englischen Behörden den Anspruch des Gläubigers auf rechtliches Gehör verletzt hätten. Die Forderung dürfe daher trotz Restschuldbefreiung weiter vollstreckt werden.
Gem. Art. 26 EuInsVO kann sich ein Mitgliedsstatt der EU weigern, eine im EU-Ausland erlangte Restschuldbefreiung anzuerkennen, wenn die Anerkennung „zu einem Ergebnis führt, das offensichtlich mit seiner öffentlichen Ordnung, insbesondere den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des einzelnen, unvereinbar ist".
Einen solch gravierenden Verstoß erblickte das Gericht darin, dass die englische Insolvenzbehörde die in Art. 40 EuInsVO vorgesehene Benachrichtigung der Gläubiger nicht unter Verwendung des in Art. 42 vorgesehenen Formblattes durchgeführt, sondern die Gläubiger lediglich in Form eines in englischer Sprache abgefassten Schreibens informiert hatte. Art. 42 EuInsVO sieht vor, dass (lediglich) die Überschrift des Formblattes „Aufforderung zur Anmeldung einer Forderung. Etwaige Fristen beachten !" in allen Amtssprachen der EU - und damit auch in deutscher Sprache - abgefasst wird. Der restliche Text ist in der Amtssprache des Erstlandes, hier also in englischer Sprache - gehalten.
Außerdem müsse ein „deutscher Bundesbürger" grundsätzlich „nur gerichtliche Schriftstücke zur Kenntnis nehmen ..., die in deutscher Sprache verfasst sind".
Die Begründung leidet bereits an einem nicht auflösbaren Widerspruch, da das Merkblatt gerade nicht in deutscher Sprache abgefasst ist. Es kann also nur ein Entweder-Oder geben und nicht ein Sowohl-als-Auch: Wenn das Schriftstück in deutscher Sprache abgefasst sein muss, stellt auch das EU-Merkblatt keine gehörsgerechte Gläubigerinformation dar. Ist das Merkblatt jedoch ausreichend, dann kann es nicht erforderlich sein, dass das Schriftstück in deutscher Sprache abgefasst ist.
Im entschiedenen Fall bestand eine Besonderheit zudem darin, dass sich der Gläubiger nicht etwa darauf berief, er selbst habe das Schreiben des Insolvency Service erhalten. Es war vielmehr unstreitig, dass die Behörde gar nicht in der Lage war, dem Gläubiger überhaupt ein Schriftstück zuzustellen, da sie dessen gültige Postadresse nicht kannte. Der Gläubiger berief sich vielmehr darauf, dass die Information an dieanderen Gläubiger fehlerhaft war und legte dazu ein Schreiben vor, das an einen anderen Gläubiger gerichtet worden war.
In seiner Begründung führt das Landgericht zunächst aus, ein Verstoß gegen den deutschen ordre public könne nicht darauf gestützt werden, dass der Gläubiger nicht informiert worden sei. Denn dieser Umstand beruhe auf einem Versehen, und aus Versehen könne keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör abgeleitet werden. Es geht aus dem Urteil nicht hervor, wie das Gericht zu dieser Auffassung gelangt. Zu der Frage, warum der Insolvency Service nicht im Besitz der richtigen Adresse war, hat das Gericht vielmehr keine Feststellungen getroffen, die Parteien haben dazu noch nicht einmal vorgetragen. Es ist nicht anzunehmen, dass der Behörde ein Fehler unterlaufen ist, da diese naturgemäß nur die ihr bekannte Adresse verwenden kann. Hat sie die ihr mitgeteilte Adresse verwendet, liegt kein Versehen vor, auch kein sonstiges Fehlverhalten. Hat sie - wie zu vermuten ist - die Adresse aus dem Schuldnerantrag übernommen und hat auch der Schuldner keine bessere Adresse gekannt, so liegt auch beim Schuldner kein Versehen vor.
Wenn eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei einem Versehen ausscheidet, so heißt dies im Umkehrschluss, dass die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör Verschulden voraussetzt. Dies ist aber nicht der Fall.
Das Gericht gesteht dem Gläubiger faktisch die Befugnis zu, die Verletzung fremder Rechte im eigenen Namen geltend zu machen. Dies ist nicht nur unzulässig, sondern es läuft darauf hinaus, dass unter dem Deckmantel des ordre public-Verstoßes eine allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle der Entscheidung ausländischer Gerichte stattfindet.
Abgesehen davon, dass es für die Meinung, ein „deutscher Staatsbürger" brauche nur in deutscher Sprache abgefasste Schriftstücke zur Kenntnis nehmen, keine Rechtsgrundlage gibt, dürfte es keinem Zweifel unterliegen, dass es auf die Staatsangehörigkeit des Adressaten nicht ankommen kann. Denn sonst könnten im Umkehrschluss allen Adressaten, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben, Schriftstücke in jeder anderen als der deutschen Sprache zugestellt werden. Jeder Absender müsste sich zuvor informieren, ob der Adressat die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Außerdem müsste sich ein Bundesbürger, der im Ausland wohnt, ebenfalls darauf berufen können, dass ihm dort nur Schriftstücke in deutscher Sprache zugestellt werden dürfen. All dies zeigt, dass der gedankliche Ansatzpunkt des Landgerichts verfehlt ist.
Der Gläubiger hat seine Rechte im englischen Verfahren auch bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Rechtsmittelinstanz und damit über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren nicht wahrgenommen, nachdem er von allen maßgeblichen Daten des Insolvenzverfahrens Kenntnis erlangt hatte, obwohl dies noch möglich war und auch heute noch möglich ist. Es ist also nicht nur bis heute kein Rechtsverlust eingetreten, sondern das Verhalten des Gläubigers legt eher die Annahme nahe, dass er eine formale Rechtsposition für zweckwidrige Ziele ausnutzt.
Aber auch die Behauptung, dass die Schreiben an die anderen Gläubiger nicht den Anforderungen des Anspruches auf rechtliches Gehör entsprachen, ist nicht überzeugend begründet. Zum einen hat das Gericht auch zu dieser Frage weder Feststellungen getroffen, noch haben die Parteien vorgetragen. Zum anderen kann aus der Tatsache, dass gegenüber einem Gläubiger ein Verstoß vorliegt, nicht gefolgert werden, dass dies auch gegenüber allen anderen Gläubigern der Fall war. Von seinem Standpunkt aus hätte das Gericht der Frage nachgehen müssen, ob nicht auch diesem einen Schreiben ein Versehen zu Grunde lag, da dann kein Gehörsverstoß vorgelegen hätte.
Bemerkenswerterweise trug der Gläubiger auch nicht vor, er habe den Inhalt des an den anderen Gläubiger gerichteten Schreibens nicht verstanden oder er hätte dessen Inhalt besser verstanden, wenn das Formblatt verwendet worden wäre. Es fehlt also an jedem nachvollziehbaren Ursachenzusammenhang zwischen der falschen (Dritt-) Gläubigerinformation und der Nichtwahrnehmung der eigenen Rechte im englischen Verfahren.
Neben den bereits angedeuteten argumentativen Schwächen des Urteils verdient dieses vor allem deswegen keine Gefolgschaft, weil ein nicht hinnehmbarer Verstoß gegen grundlegende Prinzipien des deutschen Rechts nicht zu begründen ist und weil der Gläubiger mit seiner Gehörsrüge präkludiert war. Er hätte seine Rechte im englischen Verfahren geltend machen können und müssen.
Es ist anerkannt, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Insolvenzverfahren (Art. 16, 17, 25 EuInsVO) einen zentralen Eckpfeiler der EuInsVO und des gesamten Unionsrechts darstellt und dass die Anwendung des Art. 26 EuInsVO daher nicht dazu führen darf, dass das Anerkennungssystem ausgehöhlt wird. Da es sich um einen Ausnahmetatbestand handelt, ist dieser restriktiv anzuwenden. Ein nicht hinnehmbarer Verstoß gegen deutsche Rechtsprinzipien kann schon deswegen nicht vorliegen, weil ein vergleichbarer Sachverhalt (Nichtinformation eines Insolvenzgläubigers wegen fehlender Adresse oder weil die Verbindlichkeit noch unbekannt ist) auch in Deutschland nicht dazu führt, dass die Restschuldbefreiung anfechtbar oder gar unwirksam ist.
Die Präklusion ergibt sich aus mehreren rechtlichen Gesichtspunkten, die das OLG Nürnberg in seinemBeschluss vom 15.12.2011 - 1 U 2/11 - im Falle einer Zuständigkeitserschleichung dahingehend zusammenfasst, dass die Anerkennung einer Entscheidung nach Art. 26 EuInsVO nicht alleine deshalb verweigert werden könne, weil diese inhaltlich unrichtig oder das anzuwendende Recht falsch angewandt worden sei. Grundsätzlich sei in solchen Fällen davon auszugehen, dass das in jedem Mitgliedstaat eingerichtete Rechtsbehelfsystem, ergänzt durch das unionsrechtliche Vorabentscheidungsverfahren, ausreichenden Rechtsschutz bereitstellt. Die fehlende internationale Zuständigkeit könne deshalb nur im Entscheidungsstaat geltend gemacht werden. Es sei in erster Linie Sache des englischen Gerichts, auf Vorbringen von Gläubigern zu überprüfen, ob seine Eröffnungsentscheidung zu Unrecht ergangen und zu korrigieren ist. Selbst wenn das englische Gericht die Voraussetzungen seiner Zuständigkeit nur unzureichend geprüft haben sollte, habe dies nicht zur Folge, dass die Anerkennung der Insolvenzeröffnung mit Grundprinzipien der deutschen Rechtsordnung offensichtlich unvereinbar wäre. Die Regelungen der EuInsVO gingen vielmehr davon aus, dass die Eröffnung der von ihr erfassten Verfahren in den Mitgliedstaaten grundsätzlich gleichwertig sei. Es bestehe im Ergebnis kein Unterscheid zu dem Fall, dass ein anderes inländisches Gericht seine Zuständigkeit zu Unrecht bejaht oder verneint. Fehlerhafte Verweisungsentscheidungen nach § 281 ZPO seien bis zur Grenze der Willkür hinzunehmen.